Zürich-West auf 144 Brettern

Tages Anzeiger, Juli 12, 2011

Eine Künstlergruppe verewigt die Geschichte von Zürichs Westen. Ist die Wand fertig, wird sie gleich wieder auseinandergenommen.

Es entsteht wieder etwas in Zürich-West. Im Salzlager des Tiefbauamtes an der Duttweilerstrasse bewegen sie sich mit Pinseln und Spraydosen langsam die Wand entlang. Sie, fünf Gestalter und Künstler in Kapuzenpullovern und Jeans. Die Heissluftheizung föhnt. Die Stadt hat sie in die Holzhalle gestellt, damit die Truppe nicht friert. Baulampen beleuchten die Wand: 24 Meter breit, 3 Meter hoch. Es sind Schaltafeln, 144 Stück aneinandergereiht. In ihrem früheren Leben formten sie die neuen Stützen für die Hardbrücke. Nun enden sie als Kunst, bemalt und besprayt mit Motiven aus der Geschichte des Quartiers. Am Samstag wird das Werk enthüllt. Und dann gleich wieder auseinandergeschraubt. Die einzelnen Platten kommen unter die Leute.

Drei Jahre haben sie gedauert und mit dem Volksfest um den Escher-Wyss-Platz sind sie offiziell abgeschlossen: die Bautätigkeiten an der Pfingstweidstrasse, an der Hardbrücke und an den Schienen. Auf ihnen gleiten neu die Vierertrams bis nach Altstetten. Am Samstag ist Jungfernfahrt. Und was ist ein Fest ohne Attraktionen? Eben. Also hat sich das Tiefbauamt einiges einfallen lassen. Es gibt Unterhaltung für Kinder, Abenteurer und eben auch für Leute mit einem Sinn fürs Kreative.

 

Das Tram war zu teuer

 

Die anfängliche Idee war bestechend: Eine Künstlergruppe malt das erste Tram an, das nach

Altstetten-Nord und danach eine Zeit lang durch die ganze Stadt fährt. Es hätte Geschichte geschrieben. Es wäre das erste Tram in Zürich gewesen, das legal von Kreativen gestaltet worden wäre statt von «Randalierern» versprayt. Das Tram hätte aber auch Geschichte mitgeführt, von Station zu Station. Die Geschichte der Entwicklung von Zürichs Westen vom Industriequartier zum Dienstleistungszentrum.

Aus den Trammalereien wurde nichts. Die VBZ rechneten und beschlossen, dass man sich das nicht leisten wollte. Wieder scheiterte ein Kunstprojekt in Zürich. Aber dieses Mal starb es nicht.

Sieben Tage für das Kunstwerk

Am Boden liegen leere Pizzaschachteln. Daneben steht ein Lautsprecher. Hip-Hop-Sprechgesang übertönt das Föhnen. Auf der Leiter steht Onur Dinc und schattiert Berge. Der Solothurner hat Maler gelernt, dann Theatermaler, dann Grafiker. Acht Jahre Lehre haben aus ihm einen vielseitigen Handwerker gemacht, einen Könner und einen Künstler. Von seinen fotorealistischen Bildern kann er inzwischen leben. Onur malte das Wandbild im Plaza Club an der Badenerstrasse. Stefan Hackh, Medienverantwortlicher im Tiefbauamt und OK-Präsident des Festes, kannte die Plaza-Figuren und erinnerte sich an sie, als es darum ging, Leute für das Kunstprojekt zu suchen. Onur stellte das Team zusammen, rief Wes21 an, ein Grafiker und Sprayer. Der Bieler hatte mit ihm im Plaza gemalt.

Sieben Tage haben sie Zeit für das Schaltafelprojekt, noch ist es nicht fertig. «So lange wie selten für eine Wand», sagt Wes21. Er sprayt die Arbeiter auf die Platten in heroischen Posen, die Helden der Industriegeschichte.

Ziemlich enttäuscht war auch er, als aus dem Tram nichts wurde. Nach der Absage haben sich die fünf zusammengerauft und schliesslich die Variante mit der Wand vorgeschlagen.

Auslosung vor Ort

Onur kontaktierte auch Rodja Galli, der sich Ro* nennt. Mit ihm hat er für andere Projekte auch schon riesige Flächen bemalt. Damals auf Karton. Am Schluss verkauften sie Stücke daraus. Der Käufer konnte wählen, welchen Teil er nach Hause nehmen wollte. So entstand die Idee, auch die einzelnen Schaltafeln unter die Leute zu bringen. Wer bis Montag am Wettbewerb mitmachte, hat gute Chancen, eine Platte zu gewinnen. Wer das verpasst hat, kann am Samstag vor Ort im Tramdepot an einer Auslosung teilnehmen.

Auch Ro* kommt aus Zürich West, also aus Bern, wo er als freischaffender visueller Gestalter arbeitet. Mit dabei ist auch Lain, Alain Schibli, ebenfalls Grafiker und Verleger des Kunstmagazins «Amateur». Es ist nicht so, dass er als Aarauer Zürichs Westquartier nicht kennt. «Ich war früher oft hier im Ausgang.» Doch auch er musste sich zuerst die Geschichte des Quartiers vergegenwärtigen. Tika, die Fünfte, nahm sie mit auf eine Tour. Sie will wie Wes21 lieber nicht mit bürgerlichem Namen an die Öffentlichkeit treten.

Kaffeebecher als Inspiration

Die einzige Zürcherin unter den fünf Künstlern weiss noch, in welcher Garage illegal getanzt wurde. Sie kennt die Geschichte des Klinkerhauses beim Technopark, dessen Bewohner sich nach wie vor gegen den Abbruch stemmen. Tikas Figuren mit den eigensinnigen Gesichtern kommen gerade in der Welt herum. Sie war dieses Jahr in Südafrika und in Brasilien, um Wände zu bemalen. Nun sitzt sie auf einem Stuhl in der Halle und spricht von Kaffeebechern, «dem ständigen Begleiter der Dienstleistungsgesellschaft, der Banker und Bürolisten».

«Kaffeebecher» war eines der Schlagworte, die fielen, bevor die Platten kamen. Andere waren «Arbeiter», «Partychic», «Züri-Leu». Aus ihnen entstanden die Motive, ganz rechts das Partygirl, das den heutigen Partychic in Zürich-West repräsentiert. In der Mitte der Züri-Leu.Das Bild ist symmetrisch aufgebaut. Auf der linken Seite ist das Früher, auf der rechten das Jetzt und die Zukunft. Jede Figur hat einen Bruder oder eine Schwester auf der anderen Seite. Den Bürolisten rechts stehen die Arbeiter links gegenüber. Das Pendant zum Partygirl ist die abstrakte Meerjungfrau, entstiegen aus der Limmat, mit der in Zürich-West alles begann.